Mehr als eine halbe Million Kinderunfälle ereigneten sich in den letzten 5 Jahren in Österreich, mit teils schwerem Ausgang. Eine Analyse von Experten des KFV (Kuratorium für Verkehrssicherheit) und dem Klinikum Donaustadt beleuchtet nun, wie sich die in Österreich verordneten Ausgangs-beschränkungen im Jahr 2020 auf Kinderunfälle ausgewirkt haben. Während grundsätzlich die Zahl der behandelten Unfälle im Krankenhaus zurück ging, ist der Anteil der schweren Verletzungen ähnlich wie in den Jahren zuvor als sehr hoch einzustufen. Schwere Verbrühungen, verschluckte Fremdkörper und vermehrt Kopfverletzungen prägen das Unfallgeschehen. Tendenziell auffällig, sind die oft mangelhaften Versuche Verletzungen von Kindern selbst erst zu versorgen. Die Experten appellieren medizinische Hilfe unbedingt in Anspruch zu nehmen und vorbeugend verstärkt auf Präventionsmaßnahmen zu setzen
Wien, 13. Jänner 2021. Seit Jahren weisen Experten auf die hohe Zahl von Kinderunfällen in Österreich hin. Mit einem 5 Jahreswert von mehr als einer halben Million Verletzten (2015-2019: 620.900 Kinderunfälle) und 105 getöteten Kindern (2015-2019) gehören Unfälle zu den höchsten Gesundheitsrisiken für Kinder. Sie sind – neben Krebserkrankungen – Todesursache Nummer eins von Kindern im Alter zwischen 0 und 14 Jahren. Doch wie hat sich das Corona-Jahr 2020 auf die Kinderunfälle ausgewirkt? Eine Analyse von Experten des KFV und dem Klinikum Donaustadt beleuchtet nun, wie sich die in Österreich verordneten Ausgangsbeschränkungen ausgewirkt haben.
Insgesamt weniger Unfallbehandlungen; Kleinkinderunfälle konstant auf hohem Niveau
Für die Analyse wurden die Ambulanzkontakte in der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie des Klinikums Donaustadt (SMZ Ost) im März und April 2020 detailliert ausgewertet und die Folgemonate beobachtet. Der Vergleich zeigt für 2020 einen kurvenförmigen Rückgang bei unfallbedingten Behandlungsfällen, der mit 60 Prozent schon in den ersten zwei Wochen des Lockdowns seinen höchsten Wert hatte (ab 16. März). Im April stiegen die Zahl der aufgenommenen Unfälle wieder leicht an und erreichte wieder eine geschätzte Angleichung an das Normalniveau im Laufe des Jahres. Die Abnahme der Unfallaufnahmen in der Ambulanz betraf vor allem Kinder ab dem dritten Lebensjahr. Bei Kleinkindern unter einem Jahr war kaum eine Veränderung zwischen den zwei Vergleichszeiträumen zu beobachten.
Mehr Kopfverletzungen, Verbrühungen und verschluckte Fremdkörper
Während Kinder mit leichten Verletzungen tendenziell seltener zur Behandlung vorstellig wurden, wurden Kinder mit schwereren Verletzungen weiterhin in die Ambulanz gebracht. So zeigt sich, dass sich der Anteil der Kopfverletzungen an den Unfallverletzungen von 44 Prozent im Jahr 2019 auf 55 Prozent im März und April 2020 erhöht (+27 %) hat (bei Mädchen betrug die Steigerung sogar 47 %!).
Medizinische Versorgung nutzen und Erste-Hilfe Kenntnisse auffrischen
„Im Zuge der pandemiebezogenen Regelungen sind besonders bei den Vorschulkindern die Unfälle im Wohnbereich nummerisch in den Vordergrund getreten. Es ist bekannt, dass Klein- und Vorschulkinder als sogenannte `Weltentdecker` vermehrt im häuslichen Umfeld unfallgefährdet sind. Neben der natürlichen hohen Neugier, gepaart mit ungenügender oder keiner Erfahrung, spielt der große Bewegungsdrang eine wesentliche Rolle. Letzterer ist im Zuge einer notwendigen Ausgangsbeschränkung in besonderem Maße aufgestaut. Es kam somit neben vermehrten zu Stürzen Kopfverletzungen, Verbrennungen und Verschlucken oder einatmen von Fremdkörpern. Im Sinne der Unfallverhütung sind Beaufsichtigung, Herdschutzgitter, Tür- und Fenstersicherungen, kleine Gegenstände nur im höheren unerreichbaren Bereich, Wegräumen von kleinen Batterien und Magneten, labile Hochsitze, Steckdosenschutz und Stiegengitter hochaktuelle Maßnahmen, die erneut in Erinnerung gerufen werden müssen“, so Univ. Prof. Dr. h.c. Dr. Alexander Rokitansky, Vorstand der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie am Klinikum Donaustadt.
Ende der Ausgangsbeschränkungen birgt auch Unfallrisiken
Wichtig, sei auch sich gerade gegen Ende der Ausgangsbeschränkungen mit drohende Unfallrisiken für Kinder auseinanderzusetzen: „Mit dem Ende der pandemie-bezogenen Ausgangsbeschränkungen besteht die Gefahr eines ungestümen Auslebens des Bewegungsdranges. Die sportliche Betätigung wird dann gerne mit besonderem Elan angegangen und das mit mangelnder Übung, die durch das wochenlange bewegungseingeschränkte Leben eingetreten ist. Hier ist die besonders intensive Aufsicht der Bezugspersonen über einen Zeitraum von etwa 4 Wochen nach dem „lock down“ gefragt. Hier gilt es beispielsweise beim Dreirad, Roller oder Fahrrad auf große weiche Endplatten des Lenkergriffe zu achten. Immer wieder kommt es bei Stürzten auf den aufgestellten Lenker zu schweren inneren Bauchverletzungen, die man nicht gleich als solche erkennt. Hohe Spielgeräte (>2m) haben erfahrungsgemäß ebenfalls ein erhöhtes Risiko sich deutlich schwerer zu verletzen.“
Zur medizinischen Versorgung ungeeignet: Kaffeesud, Zahnpasta und Henna
Nicht in Zahlen fassbar, aber tendenziell auffällig, waren die im Jahr 2020 oft mangelhaften Versuche von Eltern oder anderen Bezugspersonen, Verletzungen ihrer Kinder selbst erstzuversorgen. So wurden kleine Patienten vorstellig, deren Wunden mit Kaffeesud, Zahnpasta, Tabak oder Henna versucht wurden zu versorgen. „Für unvorhergesehene Situationen wie eine Pandemie, in denen Menschen stärker auf die selbstständige Erstversorgung angewiesen sein könnten, ist im Bereich der Ersten Hilfe die verstärkte Aus- und Weiterbildung der Bevölkerung empfehlenswert“, so KFV-Direktor Dr. Othmar Thann. Gerade unter den Bedingungen einer Ausgangsbeschränkung, während der viel Zeit zuhause verbracht werden muss, können und sollen Unfälle primär und im Vorhinein verhindert werden. „Nach einer merklichen Reduktion der Kinderunfälle beim ersten COVID-Lockdown nehmen schwere Verletzungen und leider auch tödliche Unfälle wieder zu.
KFV fordert bundesweites Programm zur Reduktion von Unfällen
Kinderunfälle sind besonders schwere Unfälle mit teilweise lebenslangen Folgeschädigungen. Allein die medizinischen Behandlungskosten belaufen sich auf mehr als 160 Millionen Euro. Bis jetzt gibt es in Österreich kein strategisch ausgerichtetes, bundesweites Programm zum Schutz von Kindern vor Unfällen. Österreich ist in Bezug auf präventive Kindersicherheitsmaßnahmen dadurch erst im EU-Mittelfeld zu finden. „Gezielte Maßnahmen wären für die Zukunft essentiell“, schließt Thann.