Regenerative Medizin in der Unfallbehandlung? Hoffnungsträger des 21. Jahrhunderts

951

Verbände, die die Wundheilung anzeigen, 3D-Drucker, die Knochen „nachbauen“, Hautersatz dank Know-how aus der Automobilindustrie: Die Forschung in der regenerativen Medizin setzt auf Interdisziplinarität. Sie gilt als ein zukünftig immer wichtiger werdendes Forschungsgebiet und verknüpft Ansätze der Biologie, Chemie, Physik, Informatik, Verfahrenstechnik, Materialforschung und Medizin. Unterstützung kommt vom Kuratorium für Verkehrssicherheit im Rahmen einer Projektkooperation.

Heiße Flüssigkeiten, glimmende Glutstücke, lodernde Flammen, ätzende Chemikalien: Kommen sie mit dem menschlichen Körper in Berührung, führt das meist zu schweren Verletzungen. Und in weiterer Folge zu einem Krankenhausaufenthalt. Beispielsweise in der Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie der Medizinischen Universität Graz. Die Abteilung am LKH-Klinikum ist eines von zwei Zentren für schwer Brandverletzte in Österreich.

„Unser Ziel ist die Wiederherstellung oder Verbesserung von nach Unfällen, eingeschränkten Körperfunktionen oder betroffenen Körperformen“, erklärt der Leiter der Abteilung, Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz. Auch um Patienten, die nach notwendigen chirurgischen Eingriffen wie beispielsweise einer Krebsbehandlung entsprechende Korrekturen oder Rekonstruktionen benötigen, kümmert man sich hier zwischen Ambulanz, Operationssaal-Trakt und der Bettenstation im zweiten Stock des neuen Chirurgieturms am LKH-Gelände.

„Es geht darum, das Schädigungsausmaß zu verringern beziehungsweise zu stoppen und möglichst den gesunden Originalzustand eines Organs oder Gewebes wiederherzustellen“, umreißt Kamolz das Ziel der hochspezialisierten chirurgischen Arbeit. Gerade nach Brandunfällen ein mitunter äußerst diffiziles Bemühen. Denn manche Verletzungen schädigen den Körper auch nach dem eigentlichen Unfallereignis noch, indem sie – vereinfacht formuliert – unter der sichtbaren Wunde im Körper weiterhin tieferliegende Zellen zerstören. Derartigen Phänomenen und ihrer Behandlung widmet man sich auf der Abteilung auch im Rahmen der eigenen Forschungstätigkeit.

Es ist eine Arbeit an der Schnittstelle zwischen Medizin und Technik, zwischen interner chirurgischer Exzellenz und zum Teil von extern zugelieferten technologischen Innovationen. Denn im Bereich der Biomedizin gehört die Regenerative Medizin zu den Gebieten mit der stärksten Entwicklungsdynamik und daher zu einem der zentralen Elemente im Bereich medizinischer und medizintechnischer Forschung und Entwicklung.

Die Stoßrichtungen der Wissenschaft sind dabei vielfältig, reichen von chirurgischen Zugängen bis zur anschließenden Wundversorgung mit „intelligentem“ Verbandsmaterial. Im Zuge einer Projektkooperation fördert das Kuratorium für Verkehrssicherheit diese Forschung an innovativen therapeutischen Maßnahmen. „Wir sehen darin eine zukunftsträchtige Möglichkeit zur Reduktion von menschlichem Leid und Unfallfolgekosten“, so Dr. Othmar Thann, Direktor des KFV.

Konkret werden Substanzen und Materialien mit positivem Einfluss auf die Wundheilung entwickelt, auf Machbarkeiten getestet und Richtung Marktreife getrimmt. „Mit Hilfe intelligenter Verbände, sogenannter Smart Dressings, wird es uns in Zukunft beispielsweise gelingen, die Wundheilung zu optimieren und somit das funktionelle und ästhetische Ergebnis für den Patienten zu verbessern“, konkretisiert Lars-Peter Kamolz: „Damit in Zukunft weniger passiert, wenn etwas passiert.“

Wie das gelingen kann? Indem Verbände nicht mehr nur zur Wundabdeckung dienen, sondern durch das Verwenden von entsprechenden Indikatormaterialien auch Auskunft über den aktuellen Heilungszustand der Wunde geben können – beispielsweise indem sich die Farbe des Verbands je nach Heilungsfortschritt ändert. Oder indem der Verband über einen gewissen Zeitraum gezielt und geregelt pharmazeutische Substanzen abgibt und so dem Patienten ein mehrmaliges Verbandwechseln erspart wird. „Eine Wunde heilt nicht schneller, wenn man den Verband täglich wechselt“, bringt es Kamolz auf den Punkt.

Untersucht wird beispielsweise, welche Materialien sich positiv auf das Zellwachstum in der Haut auswirken, welche Porengröße oder Beschichtungen es braucht, in welcher Phase der Wundheilung welches Material am besten wirkt und wie Anwendungen möglichst wenig komplex und möglichst einfach skalierbar sind. Zwei Denkwelten stoßen dabei aneinander: Auf der einen Seite die des medizinischen Bereichs der Universitätsklinik, auf der anderen jene der technologiegetriebenen Forscher. Permanenter Austausch ist notwendig. „Damit die Techniker wissen, was medizinisch gebraucht wird und die Mediziner wissen, was technisch möglich ist“, sagt Kamolz. Im konkreten Fall laufen die Fäden praktischerweise bei ihm selbst zusammen.

Kamolz leitet auch den Joanneum Research-Ableger COREMED (Kooperatives Zentrum für regenerative Medizin), der ebenfalls am Grazer MedCampus angesiedelt ist. Dort ist interdisziplinäres Denken und Forschen erster Punkt der „Hausordnung“. „Es geht darum, Kompetenzen aus den unterschiedlichsten Bereichen zu bündeln und mögliche Anwendungen in der Medizin zu prüfen und zu entwickeln“, erklärt Kamolz und mahnt zum Blick über den Tellerrand: „Die Forschung muss sich vernetzen“, ist er überzeugt, „wenn Einzelne abgekapselt in ihren Elfenbeintürmen bleiben, bringt uns das nicht weiter“.
Das führt zu teils überraschenden Brücken, beispielsweise in die Autoindustrie, von wo Wissen aus der Verarbeitungstechnologie von Autositzen für Hautrekonstruktionen herangezogen werden kann. Oder zu 3D-Druckern, mit deren Hilfe auf Basis von Fotos bei einem Unfall zerborstene Knochen rekonstruiert werden könnten. Oder was von der durch Corona rapide forcierten Telemedizin zukünftig als fester Bestandteil in die Patientenversorgung mit einbezogen werden soll.

Es ist ein weites Feld – mit enormer Dynamik. Studien besagen, dass sich in der Medizin das Wissen alle zweieinhalb Monate verdoppelt. Übernehmen in den Operationssälen bald von Künstlicher Intelligenz geleitete Roboter die Rolle der Menschen? Lars-Peter Kamolz relativiert: „Vieles wird durch Technologie einfacher und ersetzbar. Aber die finale Entscheidung bleibt weiterhin beim Arzt.“