Praktische Beispiele zu Rechtsfragen zum Thema Aufsichtspflicht über Kinder*
Es gibt Lebenssituationen, in denen man die Aufsicht über fremde Kinder übernimmt oder man anderen Personen die Aufsicht über die eigenen Kinder überträgt. Doch wer haftet, wenn etwas passiert? Und wie kann man sich präventiv absichern? Dr. Armin Kaltenegger, Leiter des Bereichs Recht- und Normen im KFV, erklärt, worauf man achten sollte.
- Eltern besuchen mit ihren zwei Kindern (beide unter 10 Jahren) ein Freibad oder einen See, bei dem es eine Badeaufsicht gibt. Wer haftet, wenn das eigene Kind einen Badeunfall hat? Und macht es einen Unterschied, ob im Bad Eintritt verlangt wird oder nicht?
Eltern bleiben auch in überwachten Schwimmbädern aufsichtspflichtig. Beim Kauf des Tickets schließt man mit dem Bad einen Badebesuchsvertrag ab. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Bademeister automatisch die Aufsicht übernimmt. Bademeister schulden auch nicht die lückenlose Beaufsichtigung des Badebereichs, denn das wäre unzumutbar. Es kann aber zur parallelen Haftung der Eltern und des Bademeisters (bzw. des Badbetreibers) kommen. Die Intensität der Aufsichtspflicht der Eltern hängt unter anderem von der Schwimmkompetenz der Kinder ab oder beispielsweise auch von der Situation im Schwimmbecken (Wassertiefe, künstliche Wellen, Anzahl der Badegäste …). Anders als ganz junge Kinder müssen Kinder ab acht Jahren in einem Schwimmbad in der Regel nicht mehr lückenlos beaufsichtigt werden. Zur Frage der Entgeltlichkeit: Zahlt man Eintritt, so besteht ein Vertragsverhältnis zwischen den Badegästen und dem Betreiber. Dadurch erhöht sich die Haftung des Betreibers und es kommt zur Beweislastumkehr.
- Dürfen Eltern neben ihrem eigenen zehnjährigen Kind auch gleichaltrige Freunde mit ins Schwimmbad nehmen? Reicht es, wenn die Freunde mündlich sagen, dass die Eltern eh Bescheid wüssten? Wie kann man sich absichern? Soll man immer ein schriftliches oder mündliches Einverständnis der Eltern einholen?
Die Aufsichtspflicht kann ausdrücklich oder stillschweigend (schlüssig) übernommen werden. Es gibt keinerlei Formerfordernisse. Ein Einverständnis der abwesenden Eltern ist für die Aufsichtspflicht im Wesentlichen ohne Bedeutung, entsteht die Aufsichtspflicht doch mit der faktischen Einbeziehung der Kinder in die eigene Aufsicht. Wer beispielsweise den Freund des Sohnes mitnimmt, ist aufsichtspflichtig, unabhängig davon, ob dessen Eltern es wissen oder nicht. Alles andere würde zum absurden Ergebnis führen, dass dessen abwesende Eltern einwilligen und das Kind von den beaufsichtigenden Eltern nicht beaufsichtigt werden muss. Das Nichtverständigen der abwesenden Eltern kann aber dann eine Aufsichtspflichtverletzung darstellen, wenn dadurch wichtige Informationen nicht erhalten werden konnten (z.B. Kind braucht regelmäßig Medikamente).
- Kinder spielen am Gehsteig oder im Hof mit einem Ball. Der Ball fliegt auf die Straße, wobei ein Pkw dadurch von der Straße abkommt und einen Unfall ohne Personenschaden verursacht. Wer muss den Sachschaden zahlen?
Haftbar ist zivilrechtlich immer der Schädiger. Also primär der Aufsichtspflichtige, ausnahmsweise auch das Kind. In aller Regel gibt es aber einen Versicherer (z.B.: Haushaltsversicherung), der den Schaden bezahlt. Liegt keine Aufsichtspflichtverletzung vor, so können auch Minderjährige zivilrechtlich haftbar sein, allerdings kann das Gericht das Ausmaß der Ersatzleistung mäßigen.
- Ab welchem Alter dürfen Kinder eigentlich unbeaufsichtigt im Freien spielen?
Generell gibt es keine fixe Altersgrenze. Wie immer bei der Aufsichtspflicht kommt es auf den Einzelfall an. Es haben sich aber allgemeine Grundsätze anhand der Rechtsprechung entwickelt:
- Kleinkinder benötigen umfassende Betreuung.
- Kindergartenkinder müssen in Sichtweite bzw. je nach Situation in Griffweite beaufsichtigt werden.
- Für Vorschulkinder gibt es eine Kontrollverpflichtung in kurzen Abständen.
- Ab ca. dem Schulalter: Kurzfristiges allein bleiben tagsüber ist möglich. Wenn ein Kind draußen spielt, muss die Aufsichtsperson wissen, wo es sich aufhält. Eine Überwachung auf Schritt und Tritt kann laut zwei Fällen aus der Judikatur bei Kindern im Alter von fünf oder auch acht Jahren in der Regel nicht verlangt werden. Wobei es aber wie erwähnt keine fixen Altersgrenzen gibt, sondern auch die individuelle Reife der Kinder eine Rolle spielt. In ländlichen Regionen entspricht es den Lebenserfahrungen – je nach Verkehrssituation – Kinder ab einem gewissen Alter beim Spielen auch in etwas größerer Entfernung vom Elternhaus ohne ständige Beaufsichtigung zu lassen. Das trifft insbesondere auf schulpflichtige Kinder zu, die auch den Schulweg allein zurücklegen, weil sie dadurch eine gewisse Selbständigkeit erlangt haben. Schulkinder müssen daher in einer offenbar nicht gefahrenträchtigen Umgebung, nicht permanent überwacht werden.
- Ein Kind beschädigt unabsichtlich das Handy oder einen anderen Gegenstand eines Freundes. Wer zahlt? Die Eltern des Verursachers oder deren Haftpflichtversicherung?
Haftbar ist zivilrechtlich immer der Schädiger. Also primär der Aufsichtspflichtige, ausnahmsweise auch das Kind. In aller Regel gibt es aber einen Versicherer (z.B.: Haushaltsversicherung), der den Schaden bezahlt. Liegt keine Aufsichtspflichtverletzung vor, so können auch Minderjährige zivilrechtlich haftbar sein, allerdings kann das Gericht das Ausmaß der Ersatzleistung mäßigen.
- Ein 15-jähriger Teenager möchte auf Ferienlager fahren. Die dortigen Aufsichtspersonen können vermutlich nicht 24 Stunden am Tag alle Jugendlichen im Auge behalten. Wer haftet, wenn etwas passiert?
Der Aufenthalt in einem Ferienlager soll grundsätzlich die Selbständigkeit der dorthin entsandten Jugendlichen fördern. Der Beaufsichtigter schuldet jedenfalls keine lückenlose Beaufsichtigung, sondern eher einen „sicheren Rahmen“ (Verpflegung, Umgebung, Tagesablauf, Erstellung von Regeln). Die Aufsichtspflicht der Eltern scheidet mit hoher Wahrscheinlichkeit aus, es sei denn, sie haben durch die Entsendung des Teenagers eine Gefahr geschaffen (z.B.: Er ist krank und braucht eine spezielle Versorgung, die im Lager offensichtlich nicht geboten werden kann). Die Verantwortung des Organisators und der Eltern sowie die Eigenverantwortung der Jugendlichen sind je nach Einzelfall zu beurteilen. Einen „für alles Haftenden“ gibt es nicht.
- Ein Kleinkind streichelt in einem unbeaufsichtigten Moment und ohne Einwilligung des Hundebesitzers einen fremden Hund (kein „Kampfhund“, Situation ohne Maulkorbpflicht). Der Hund beißt das Kind. Wer haftet?
Der Hundebesitzer hat für die sichere Verwahrung seines Hundes zu sorgen. Das Ausmaß der Haftung hängt aber vom Einzelfall ab (z.B.: hat der Hund schon einmal in der Vergangenheit jemanden gebissen?). Vernachlässigt er seine Hundehalterpflichten, so haftet er. Beispielsweise, wenn ein Hundebesitzer mit seinem Tier an einer Kindergartengruppe vorbeigeht, ohne dabei vorsichtiger zu werden. Musste er hingegen mit keiner besonderen Gefahrensituation rechnen, so haftet der für das Kind Aufsichtspflichtige, wobei der Hundehalter aber beweispflichtig für seine Unschuld ist.
Aufsichtspflichtige Personen tragen eine große Verantwortung: 2023 wurden in Österreich bei Unfällen mehr als 115.000 Kinder verletzt und 19 getötet © KFV
- Angenommen jemand hat mehrere minderjährige Kinder, die er nicht alle ständig im Auge behalten kann. Kann man die Aufsicht über die jüngeren Kinder den älteren übertragen? Und kann in weiterer Folge ein mündiger Minderjähriger (14 bis 18 Jahre) für den Unfall eines unmündigen minderjährigen Geschwisters (hat das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet) sogar haftbar gemacht werden?
Ganz grundsätzlich gesagt, können auch Kinder gewisse Aufsichtspflichten übernehmen. Dies hängt vor allem von der individuellen Reife des mit der Beaufsichtigung befassten Kindes ab. Eltern trifft hier eine Organisationsverantwortung. Plakativ formuliert: Es gibt 18-Jährige, denen man nicht einmal ein Meerschweinchen in Obsorge geben sollte und es gibt 12-Jährige, die bereits mehrmals erfolgreich auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst haben. Bei den Eltern bleibt also immer ein mögliches Auswahlverschulden. Die Grenzen der Aufsichtspflicht liegen darin, was vom Aufsichtsführenden vernünftigerweise verlangt werden kann. Eine Haftung der Kinder selbst kommt nur in seltenen Fällen zur Anwendung, bei Jugendlichen schon eher.
Zu beachten sind aber auch etwaige landesgesetzliche Vorschriften: In Kärnten beispielsweise dürfen Erziehungsberechtigte in begründeten Ausnahmefällen vorübergehend die Aufsicht über ihre Kinder auch von nicht volljährigen Personen ausüben lassen. Dabei darf die Aufsicht über noch nicht schulpflichtige Kinder nur von mindestens zwei Jahre älteren schulpflichtigen Kindern oder Jugendlichen und die Aufsicht über schulpflichtige Kinder nur von mindestens zwei Jahre älteren Kindern oder Jugendlichen ausgeübt werden.
- Ab welchem Alter darf man als Babysitter einspringen? Wer haftet, wenn unter der Aufsicht eines Babysitters etwas passiert?
Die Eltern haften dann, wenn sie jemand offensichtlich ungeeigneten mit der Aufsicht betraut haben (Auswahlverschulden), die Babysitter für etwaige Aufsichtspflichtverletzungen. Auch eine gemeinsame Haftung kommt in Betracht. Fixe Altersgrenzen gibt es nicht.
- Fensterstürze von Kleinkindern kommen in Österreich leider immer wieder vor. Beispielsweise, weil ein Kind in einem unbeaufsichtigten Moment hinausklettert und hinunterfällt. Für die Eltern eine menschliche Tragödie. Kann es für sie auch noch strafrechtliche Konsequenzen geben?
Ja, selbst beim Tod des eigenen Kindes oder wenn es schwer verletzt ist, werden Eltern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, wenn sie durch eine Unachtsamkeit fahrlässig das Unglück herbeigeführt haben. Allerdings berücksichtigen die Gerichte meistens das erfahrene Leid und verhängen weniger strenge Strafen, da die spezialpräventive Notwendigkeit nur mehr in geringem Ausmaß gegeben ist.
- Geschiedene Eltern haben die gemeinsame Obsorge über ihren 15-jährigen Nachwuchs. Der Jugendliche lebt für gewöhnlich bei seiner Mutter, die dagegen ist, dass er ein 3-tägiges Rockfestival besucht. Beim Besuch des Vaters fragt er ihn um Erlaubnis und er sagt ja. Darf das Kind fahren? Und wer haftet, wenn er fährt und etwas passiert?
Obsorgeberechtigte können rechtlich betrachtet für sich allein gültige Entscheidungen treffen. Gibt es keinen Konsens, kann auch das Gericht eingeschaltet werden. Diese Entscheidungen sind aber oft pädagogischer Natur und haben mit Aufsichtspflicht nichts zu tun. Letztlich haftet derjenige, der im Moment der Abreise des Jugendlichen die Aufsichtspflicht hatte, nach den allgemeinen Maßstäben.
- Was tun, wenn ein Kind nicht abgeholt wird? Bleibe ich dann aufsichtspflichtig?
Ja, und zwar so lange bis ich das Problem gelöst habe. Ich darf aber auch geeigneten Ersatz für die Aufsicht finden. Der säumige Elternteil wird mir gegenüber aber vertrags- bzw. abredebrüchig und muss mir eventuell sogar Schadenersatz leisten.
* Rechtsfragen zur Aufsichtspflicht können ohne exakte Kenntnis aller Umstände (genaues Alter des Kindes, individuelle Entwicklung und Vorerfahrungen, Umgebungsvariablen – insbesondere der Gefährlichkeit der Umgebung, bisherige Erfahrungen mit dem Kind u.v.m.) nur ganz grundsätzlich beantwortet werden. Allein die Änderung eines winzigen Sachverhalts kann die Antwort nahezu ins Gegenteil verändern. Deshalb werden diese Sachverhalte in aller Regel in jahrelangen aufwändigen Gerichtsverfahren gelöst. Somit stellen die Antworten theoretische Grundsätze dar, die als Basis für eine Lösung herangezogen werden können. Als „Kinder“ wurden in den Beispielen in der Regel Personen von 0 bis 14 Jahren bezeichnet, als „Jugendliche“ Personen ab 15 Jahren bis 18 Jahren.