Multitasking – non, merci!

516

Chatten, Streamen und Surfen am Steuer? Gelebte Realität mit oft fatalen Folgen. Beim Lenken ist Denken gefragt: Leben wir doch mehr im Moment!

DI Klaus Robatsch: „Der Mensch ist nur begrenzt multitaskingfähig.“ Foto: KFV

„Onkel Rudi, ich kann jetzt nicht so lang plaudern. Ich bin im Auto unterwegs!“ – „Aber das muss ich dir noch ganz schnell erzählen … Du hast doch ohnehin eine Fernsprecheinrichtung!“ – „FREIsprecheinrichtung.“ – „Ja, sag ich doch!“ An der nächsten Kreuzung klingelt es schon wieder. Diesmal aber nicht das Handy, sondern der querungswillige Radfahrer, dessen Vorrang hier und jetzt oberste Priorität haben sollte.

Situationen wie diese – die Fahrt durch den hektischen Stadtverkehr, Friends oder Family am Telefon, dazu der Lieblingssong im Stream und der nächste Termin wartet schon – schaffen es immer wieder: Wir sind ab-gelenkt und überfordert. Und anfällig für Fehlleistungen. Weil wir alle nicht unfehlbar sind. Auch wenn wir das gerne glauben.

Mythos Multitasking
Multitasking ist die Fähigkeit, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Aber sind wir tatsächlich multitaskingfähig? Visuelle, auditive, kognitive und motorische Ressourcen brauchen wir zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen – und davon gibt es nicht wenige im komplexen System Straßenverkehr: Rund 600 bis 800 Millionen Bit an Informationen strömen gleichzeitig auf uns ein.

Bis zu 40 Bit pro Sekunde kann das menschliche Gehirn erfolgreich verarbeiten. Werden beim Telefonieren bereits 25 Bit pro Sekunde für die Hörleistung verbucht, bleiben für den Sehsinn nur noch 15 Bit pro Sekunde übrig. Die fatale Folge: Unaufmerksamkeitsblindheit. Heißt im Klartext: Der Radfahrer am Straßenrand wird plötzlich ausgeblendet. Obwohl er eigentlich doch leibhaftig zugegen ist – und auch am Leben bleiben will.

70 Meter Blindflug
Bestimmte Quellen von Ablenkung sind beeinflussbar: Das Telefonat während der Fahrt kann warten, die Suche nach dem Rouge in der Handtasche auch. Auf externe Quellen der Ablenkung hat man sowieso keinen Einfluss: bunte Firmenlogos an Häuserwänden, auffällige Werbeplakate oder sonstige Eyecatcher am Straßenrand.

Ablenkung kann mehrere Sinne gleichzeitig bündeln: Das Lesen einer Textnachricht bedeutet visuelle und kognitive Ablenkung, das Schreiben dazu noch motorische. Auge an Großhirn: 90 Prozent aller fahrrelevanten Informationen werden visuell aufgenommen.

„Naturalistic-Driving-Studien – authentische wissenschaftliche Beobachtungen freiwilliger Testpersonen in Fahrt – lassen erkennen, dass Nebentätigkeiten mit längerer Abwendung der Augen vom Verkehrsgeschehen die größte Gefahr darstellen. Klassischer Fall: Texting – das Tippen einer Textnachricht, das uns gute fünf Sekunden ans Display fesselt. Bei Tempo 50 sind das ganze 70 Meter im „Blindflug“! Fünf Sekunden und 70 Meter, die über Leben und Tod entscheiden“, erklärt Klaus Robatsch, Leiter des Bereichs Verkehrssicherheit.

Ablenkung: Unfallursache Nr. 1
Ablenkung am Steuer bedeutet verzögerte Reaktion und erhöhtes Unfallrisiko. Für die meisten Unfälle auf Österreichs Straßen ist heute die Unfallursache „Ablenkung/Unaufmerksamkeit“ verantwortlich: Im Jahr 2019 ging rund ein Drittel aller Unfälle mit Personenschaden auf das Konto mangelnder Aufmerksamkeit.

Kein Wunder, denn das Smartphone macht’s möglich: Telefonate, E-Mail- und WhatsApp-Korrespondenz, sogar Surfen und Streamen – all das wird ungeniert während der Fahrt ausgeübt. Dazu kommen weitere Ablenkungsarten: Essen, Trinken, Musikhören, Tagträumen. KFV-Beobachtungen beweisen: Der Fokus liegt allzu oft nicht auf dem Verkehrsgeschehen. Der Blick fällt ins Fahrzeuginnere oder gedankenverloren durchs Seitenfenster. Mann/Frau sucht im Handschuhfach, in Handtaschen, parliert mit Passagieren oder hantiert mit dem Handy herum.

Unsere Befragungen lassen aufhorchen: Besonders junge Menschen sind am Steuer oft abgelenkt. So nimmt die Hälfte aller jungen LenkerInnen Anrufe während der Fahrt entgegen – knapp 38 Prozent davon sogar ohne Freisprecheinrichtung –, und jede/r Dritte ruft aktiv aus dem Fahrzeug an. Als wäre das Auto ein Büro oder Wohnzimmer auf Rädern – und bereits vollautonom unterwegs. Dazu vielleicht noch die sonore Navi-Stimme aus dem Off: „Wenn möglich, bitte wenden …“

Leben im Moment!
Wenn möglich, wenden wir doch bitte unsere Aufmerksamkeit wieder dem Echtzeit-Geschehen direkt vor uns auf der Straße zu – mit klarem Blick und freiem Kopf für das absolute Hier und Jetzt. Denn das ist der wichtigste Fokus von allen: Leben im Moment. In diesem Sinne: Multitasking – non, merci! Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Aktuelle KFV-Studien zum Thema Ablenkung am Steuer finden Sie in unserem Download Center: https://www.kfv.at/forschung/verkehrssicherheit/fachpublikationen/?cp_167=4